Ein Sturm zieht auf

Eigentlich ist mein Plan, den Sturm mit offenen Armen zu empfangen.
Mich mitten auf die Straße zu stellen (natürlich erst nachdem ich überprüft habe, dass kein Auto kommt), einen hüftbreiten, sicheren Stand zu finden, die Arme weit nach beiden Seiten auszustrecken und auf den Sturm zu warten.
Ihn willkommen zu heißen.
Ihm klar zu machen, dass ich nicht aus dem Weg gehen werde.
Dass er mich nicht umhauen kann.
Diesen Gefallen werde ich ihm nicht tun.
Ich werde nicht zurückweichen.
Erst wird er es nicht glauben.
Er wird mich belächeln.
Was kann schon ein so kleines Menschlein gegen einen Sturm wie ihn ausrichten?
Tsss, das ist doch Größenwahnsinn.
Doch langsam wird er verstehen.
Ich werde nicht aus dem Weg gehen.
Er kann mich nicht umhauen.
Ich werde nicht zurückweichen.
Er wird es versuchen.
Mit all seiner Kraft.
Ich werde mich dagegenstemmen.
Mit all meiner Kraft.
Und ich werde gewinnen.
Ich werde ihn besiegen.

Eigentlich ist mein Plan, den Sturm mit offenen Armen zu empfangen.
Aber als ich dann aus dem Haus trete, immer näher an den Rand des schützenden Vordachs, wird mir auf einmal anders zumute.
Der Wind treibt einen Hauch des Regens zu mir herüber.
Kein Auto in Sicht.
Jetzt oder nie…
Ich trete unter dem schützenden Vordach hervor.
Mache ein, zwei, drei Schritte.
Spüre schwere Tropfen, die sich von meiner leichten Kleidung nicht beeindrucken lassen und kühle Botschaften hinterlassen.
Und drehe um.
Zurück unters Vordach.
Zurück in Sicherheit.
Ein Gedanke ermahnt mich umzukehren.
Zurück auf die Straße.
Meinen Plan umzusetzen.
Die Arme auszubreiten.
Wenigstens die Arme auszubreiten.
Auch wenn es nur hinter unterm Vordach ist.
Ich schaffe es nicht.

Ist es wirklich klug, sich mit einem Sturm anzulegen?
Mit einem Sturm diesen Kalibers?
Oder ist das einfach nur dämlich?
Oder sind das etwa alles nur Ausreden?
Weil ich „gekniffen“ habe?
Mein eigentliches Vorhaben nicht umgesetzt habe?
Was will ich eigentlich beweisen?
Und wem?
Dass ich „mutig“ bin?
Dass ich mich „traue“?
Dass ich „stark“ bin?
Dass ich mich „nicht unterkriegen lasse“?
Was will ich eigentlich beweisen?

Auf halbem Weg nach oben in die Wohnung, im offenen Treppenhaus, halte ich plötzlich inne.
Direkt über mir der Himmel.
Hier ist der Sturm, eingeklemmt zwischen den Häusern, nur ein angenehmer Regen.
Ich bleibe stehen und atme.
Hebe das Gesicht gen Himmel.
Meine Arme breiten sich wie von selbst aus.
Regentropfen auf der Haut.
Und da spür ich es, da weiß ich es:

Es ging nie darum, den Sturm zu besiegen.
Ich will mich „nur“ lebendig fühlen.

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