Als du meine Miene siehst, kommt deine ganz fantastische Gabe zum Einsatz: Du kannst mich, wenn ich es zulasse, komplett durchschauen. Also nicht so Röntgen-Blick-mäßig, aber trotzdem ziemlich cool. Denn so gibst du mir die Möglichkeit, nicht so einfach davonzukommen.
„Was ist los?“, fragst du mich in diesem sanften Ton, der mich schon bei unserem ersten Treffen erstaunlich nah an den Rand der Tränen-Schwelle geführt hat.
Ich schnaube – verärgert, aber auch tieftraurig. „Ich wollte gerade sagen: ‚Ich habe es nie so gewollt‘. Aber weißt du was!? Nicht einmal das ist wahr!“
„Warum nicht?“, fragst du nach ohne abzuwarten. Eine weitere deiner Gaben: Du scheinst immer zu wissen, wann es besser ist, mich von selbst weiterreden zu lassen oder mit einer Frage nachzuhelfen.
„Ich glaube mich daran erinnern zu können, dass ich mir gewünscht habe, nicht so zu sein wie die anderen. Kein Herdentier. Kein Massentourist. Keines dieser 0-8-15-Püppchen. Kein ‚Durchschnitts‘-Leben führen… Und das hab ich jetzt davon…!“ Ich hoffe, diese Worte klingen mindestens so bitter wie sie schmecken, und verschränke wütend die Arme vor meiner Brust. Gleichzeitig spüre ich die Tränen dicht unter der Oberfläche lauern. Super, auch das noch!
Du beobachtest mich. Das macht mich nervös. Ich beiße die Zähne fester aufeinander. Deine Miene hingegen wird noch weicher – so als könntest du es spüren.
Diesmal schweigst du. Du wartest ab. Mein Zug. Ich will aber nicht!
Da sind so viele Emotionen in mir. Wut, Frustration, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Überforderung, … Das, was schließlich meinen Mund verlässt, ist allerdings bei Weitem nicht so laut, aggressiv und anklagend wie ich gedacht hätte: „… aber ich habe nie gewollt, dass es so kommt… nicht so…“ Ein trauriges, leises Geständnis, dessen Nachhall jedoch umso lauter ist. Es breitet sich aus im Raum, zwischen uns, in mir.
Du scheinst es in dich aufzunehmen – fast so als könntest du mir auf diese Weise helfen es anzunehmen. Noch immer schweigst du. Dein Blick spricht dafür Bände.
Ich atme ein und aus. Öffne mein Herz für dieses Gefühl. Für das hier. Für mich.
Und dann wiederhole ich es. Ganz einfach, weil es manchmal unheimlich wichtig ist, Sachen mehrmals zu sagen. Sie mehrmals auszusprechen. Ihnen immer wieder Raum zu geben.
„Ich habe es nie so gewollt…“ Diesmal mit festerer Stimme. Denn ich stehe dazu.