Herz über Kopf*

Gemächlich rollt der Zug in den Bahnhof ein. Es ist als hätte er alle Zeit der Welt.
Einige der Passagiere werden schon unruhig. Sie haben es, im Gegenzug zur Eisenbahn, eilig, haben „dringende Verpflichtungen“ und können folglich keine einzige Minute „verlieren“.
„Ein bisschen Entschleunigung könnte da nicht schaden“, denke ich, gefolgt von „Ich kenne da jemanden, der mich wegen eines solchen Gedankens ohne zu zögern als ‚anmaßend‘ verurteilen würde, auch wenn es ganz anders gemeint ist…“
Weiter komme ich nicht, denn da sehe ich ihn plötzlich: einen jungen, bärtigen Mann, der Bahnsteig 1 entlangläuft, um zur Unterführung zu gelangen und seinen Zug noch zu erwischen.
„Könnte knapp werden…“, kommentiert meine innere Stimme. Viel spannender aber finde ich die Tatsache, dass mich dieser Mann an jemanden erinnert, ja es kommt mir so vor als würde ich ihn kennen. Er sieht aus wie… du. Ja, eindeutig. Zumindest scheint es mir aus dieser nicht unbeträchtlichen Entfernung so. Aber kann das sein? Bist du es?

Mein Herz schlägt plötzlich schneller und mein ganzer Körper ist angespannt. Die wenigen Sekunden, die sich der Laufende in meinem Blickwinkel befindet, kann ich die Augen nicht von ihm abwenden. Kann es tatsächlich sein…? Hast du nicht einmal gesagt, du seist nur selten hier in dieser Stadt? Ist das etwa genau eines dieser seltenen Male? Solltest du nicht Zuflucht suchend in Süditalien herumgeistern oder irgendwo im tiefsten Afrika preisverdächtige Fotos schießen?
Als der Zug ein paar Augenblicke später mit quietschenden Bremsen zum Stillstand kommt und ich, alle Warnungen meines Verstandes in den Wind schießend, wie eine Wahnsinnige die Unterführung hinabstürze, ist von dem Mann nichts mehr zu sehen. Ich kann meine Enttäuschung nicht verhehlen, würde mich damit nur selbst belügen.

Einen kurzen Moment lang überlege ich, dir zu schreiben und dich zu fragen, ob das tatsächlich du warst. Doch ich weiß: Die Chance, dass du mir überhaupt antwortest, ist verschwindend gering. Also gar nicht erst versuchen; schlussendlich wäre ich eh nur enttäuscht – wieder einmal. „Und vielleicht ist es ja auch besser so…“, versucht mein Verstand mein aufgebrachtes Herz zu trösten, zu beruhigen.
Tatsache ist, ich werde (vermutlich) nie wissen, ob du es warst. Und manch einer würde an dieser Stelle vermutlich einwerfen, dass mir dieses Wissen so oder so nichts bringen würde. Na ja, ‚anmaßend‘ oder nicht muss ich da „leider“ widersprechen. Mein Herz weiß es besser.

 

*“Herz über Kopf“ ist der Titel eines Songs von Joris

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